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Filmbildung in der Migrationsgesellschaft

Alejandro Bachmann

Der Vermittler, Kurator und Autor Alejandro Bachmann denkt in seinem Toolbox-Beitrag über Filmvermittlungsstrategien im Zusammenhang mit der Migrationsgesellschaft nach.
www.alejandrobachmann.com

Bedeutsame Begegnungen, multiple Perspektiven, Differenzerfahrung – zu den Potenzialen einer ästhetischen Filmbildung in der Migrationsgesellschaft

I Filmbildung in der Migrationsgesellschaft

Mit Filmbildung ist im Folgenden eine Bildung am Film gemeint, eine Bildung, die das Spezifische des Mediums Film (seiner Ästhetik, seiner Erfahrung, seiner Geschichte) ernst nimmt und diese in Form von Bildungsmomenten produktiv machen will. Es geht also nicht primär darum, einen Film dazu zu benutzen, um das von ihm verhandelte Thema für eine anschließende, vom Film abgerückte Diskussion zu nutzen, oder Sprachfertigkeiten zu erlernen. Filmbildung, wie sie hier gemeint ist, geht davon aus, dass im Film und seiner Erfahrung eine spezifische Form des Denkens entlang von bewegten Bildern steckt, die es ermöglicht, eine bestimmte Form von Gedanken hervorzubringen, die in dieser Form vor allem dem Kino entspringen (so wie andere Formen des Denkens anderen Künsten entspringen).

Diese Filmbildung vollzieht sich nicht in einem luftleeren Raum, sie ist eingelassen in eine gesellschaftliche Realität, die sie adressiert – etwa durch das Angebot eines Seminars – und auf die sie zurückwirkt – z. B., indem sie dazu beiträgt, einen komplexeren, vielschichtigeren Begriff von Film, Kino, Kunst, Geschichte, Ästhetik, Kommunikation etc. zu etablieren. Wer Filmbildung betreibt, müsste also – idealerweise – darüber nachdenken, wie er den Filmen eine didaktische/pädagogische/vermittelnde Rahmung zukommen lässt, in denen sie ihre spezifischen Potenziale mit Blick auf das Medium wie auch die gesellschaftliche Gegenwart, in der dieses Medium verhandelt wird, bestmöglich zur Entfaltung bringen können.

Die österreichische Gesellschaft ist eine, für die das Phänomen der Migration konstitutiv ist und zunehmend konstitutiver wird. Neben der medial sehr präsenten Form der Flucht von Menschen leben auf österreichischem Staatsgebiet mehr und mehr Menschen, die über Landesgrenzen hinweg ihren beruflichen Tätigkeiten nachgehen, oder aus persönlichen und privaten Gründen nach Österreich gezogen sind, oder der zweiten und dritten Generation einer Familie angehören, die als sogenannte „Gastarbeiter“ nach Österreich kamen. Migration – reguläre und irreguläre, freiwillige und erzwungene, dauerhafte und vorübergehende – ist überall, allgegenwärtig und prägt nicht nur das Leben jener Menschen, denen man „Migrationshintergrund“ zuschreibt, sondern die Gesellschaft und das Leben als Ganzes1. „Durch Migration wird die Frage der Zugehörigkeit – nicht nur der sogenannten Migrant/innen – individuell, sozial und auch gesellschaftlich zum Thema, da durch Migration eine Differenzlinie befragt wird, die zu den grundlegendsten gesellschaftlichen Unterscheidungen gehört. Diese (imaginäre) Grenze scheidet das ,Innen‘ von dem ,Außen‘.“2 Nimmt man diese Feststellung von Paul Mecheril ernst, hat das weitreichende Konsequenzen für die Filmbildung: Angefangen von der Art und Weise, wie man unterrichtet, welche Filme man zeigen und vermitteln möchte, über Fragen, wie man die Idee eines nationalen Kinos und Formen der Kanonisierung denken möchte bis hin zur Struktur von Institutionen, die im Bereich der Filmbildung tätig sind, werden hier berührt.

II. Ästhetische Filmbildung und Migrationspädagogik: Haltung

Filmbildung muss, wie alle anderen Bildungsangebote, auf diese gesellschaftliche Realität eingehen, um ein relevanter Teil der Gesellschaft zu sein (heißt auch: um die Relevanz von Film in der Gesellschaft zu erhalten). Das bedeutet nicht, dass sie ihre eigentlichen Ideen und Zielsetzungen opfern muss, vielmehr könnte es darum gehen, die oben in aller Kürze skizzierte Idee von Filmbildung um eine migrationspädagogische Perspektive zu erweitern. Diese Erweiterung wäre dann aber nicht als Anhängsel zu sehen („Das auch noch!“), sondern als Perspektive, die die Ideen einer Filmbildung verändert, bereichert, vollständig durchdringt – auf allen Ebenen und von vorne herein.

Eine Migrationspädagogik „beschäftigt sich mit Zugehörigkeiten und den Bedingungen und Konsequenzen ihrer Herstellung“3, sie schafft also didaktische Szenarien, in denen Fragen von Zugehörigkeit und Identität, von kulturellen Kontexten und sprachlichen Diskursen mitverhandelt und kritisch befragt werden können, unabhängig vom Unterrichtsfach. Die hier implizierte interkulturelle Haltung ist nicht etwas, das eine Person sporadisch und an „passenden Stellen“ zum Einsatz bringt. Sie ist – im Gegenteil – eine Haltung, die jegliches private sowie gesellschaftliche Handeln und Interagieren durchdringt – auch das Nachdenken über und Vermitteln von Film. Zum anderen bildet sich im Film – einem meistens industriell hergestellten Kulturgut – jene Vielheit der Gesellschaft, die zum Ausgangspunkt einer migrationspädagogischen Haltung wird, auch in besonderer Weise ab. Dies ist der Fall in den transnationalen Produktionsstrukturen, die weitaus mehr als nur Geldbewegungen ineinanderfließen lassen, sondern immer mehr zu hybriden, vielschichtigen, nicht homogenen filmischen Formen und Figuren führen. Entscheidend sind auch die Distributions- und Rezeptionsweisen, die ein und dasselbe Kulturgut zur Reflexion in diversen kulturellen Kontexten zur Verfügung stellen. Filme versammeln Menschen mit diversen Identitätskonstruktionen beispielsweise in einem Kinosaal, wo sie in der gemeinsamen Anonymität Erfahrungen machen und diversen kulturellen Narrativen begegnen. Schlussendlich ist es vor allem dieses Potenzial – das Machen von und die Auseinandersetzung mit ästhetischen Erfahrungen –, die in besonderer Weise eine Grundlage der Reflexion über Gemeinsamkeiten und Differenzen und ihres Zustandekommens sein können. „In ästhetischen Erfahrungen setze ich mich mithin in einer doppelten Weise in ein Verhältnis zu mir und der Welt und werde in ein Verhältnis gesetzt: Ich nehme wahr und nehme wahr, dass ich wahrnehme.“4 Beim Sehen eines Films also kann ich in besonderer Weise über die Bedingungen einer Migrationsgesellschaft nachdenken, weil der Film mich auf der einen Seite eine oder mehre Perspektive/n einnehmen lässt und so meine Begegnungen mit Figuren und Formen ästhetisch rahmt und er es mir gleichzeitig ermöglicht, darüber nachzudenken, wie jede spezifische Perspektive eine gemachte ist und meinen Blick auf die Welt beeinflusst.5

III. Begegnung, Perspektive, Differenz

Da wir bei einer Migrationspädagogik davon ausgehen, dass in der Gesellschaft potenziell jeder jedem ein anderer sein kann und jenes, dass mich von einem anderen trennt vor allem als Differenz (und nicht als Defizit) gedacht wird, geht es ihr vor allem um das Herstellen von Situationen, in denen Begegnungen gleichberechtigt und das Verhandeln von Perspektiven und Verstehen von Differenzen miteinander stattfindet. Berührt werden in diesen Anforderungen eine ganze Reihe von zentralen Parametern der Filmbildung:

– Vermittlung muss in einer ästhetischen Filmbildung, die die zuvor beschriebene migrationspädagogische Haltung inkludiert noch viel stärker als das Herstellen einer Situation begriffen werden, in der entlang einer gemeinsamen ästhetischen Erfahrung (z. B. dem Kinobesuch) über diese gesprochen werden kann. Reich wird eine solche Diskussion, wenn sie es schafft, möglichst viele Positionen einer Gruppe zu inkludieren. Das Ziel wäre dabei nicht primär das Erarbeiten eines Konsens oder die richtige Interpretation des Films, im Fokus könnte eher das Nachvollziehbarmachen unterschiedlicher Sichtweisen auf ein und den selben Film stehen. Die Tiefe der Auseinandersetzung läge dann vielleicht in einem Herstellen von lesbaren Verhältnissen verschiedener Perspektiven und einem Erarbeiten von Gemeinsamkeiten6. Der Film wäre so das Objekt einer Vermittlung, die versucht, um ihn herum und auf ihn bezogen ein Gespräch in Gang zu bringen, vielstimmig und vielleicht gelenkt, nicht aber in einer Geraden zu einer vereinfachenden Deutung.

– Wenn man möchte, dass Filmbildung einen umfassenden Begriff von Kino vermitteln soll, bedeutet das zum einen, dass es nicht allein um die dominanten Gattungen des Spiel- und Dokumentarfilms gehen kann, sondern auch um den Avantgardefilm, amateuristische Formen, Lehrfilme, frühes Kino und neue, hybride Formen usw. Es müsste aber auch bedeuten, Filme auszuwählen, die gemeinsam, also als Konstellation der Idee einer dominanten Kultur, die vermittelt werden muss, entgegenwirkt und eher das Hybride, das uneindeutige Ineinander kultureller Versatzstücke und Überlagerungen betont. Die Auswahl der Filme sollte in der Filmbildung selbst diese Idee von Differenz schon beinhalten. Neben einer Vielheit der ästhetischen Formen sollte eine Vielheit der gesellschaftlichen Perspektiven stehen. Programme von Kinematheken, Festivals mit Fokus auf bestimmte nationale Kinematographien können sehr hilfreich sein, um jenseits des Kanons und der „Klassiker“ auf ein breiteres Verständnis von Kino und Gesellschaft zu treffen. Und selbst wenn man sich dazu entschließt, einer Gruppe das „österreichische“ Kino näher zu bringen, sollten Perspektiven von Menschen mit Migrationserfahrung (z. B. Kurdwin Ayubs Paradies! Paradies!), mit einem Blick von außen (z. B. Richard Linklater oder John Cook), mit einem Blick auf das Marginalisierte (z. B. Patric Chihas Brüder der Nacht) dabei selbstverständlicher Bestandteil sein.

– Situiertes Wissen: Unter situiertem Wissen versteht man ein Wissen, das sich nur in der eigenen Erfahrung einer bestimmten gesellschaftlichen Position formiert, ein Wissen, das aus einer gewissen Situation entsteht und nicht angelesen oder im eigentlichen Sinne erlernt werden kann.7 Machen Sie sich bewusst, dass Kinder und Jugendliche in z. B. ihrer Klasse in weitaus größerem Maße über dieses Wissen verfügen (z. B. wie es ist, mit zwei Staatsbürgerschaften zu leben, geflüchtet zu sein, rassistischen Anfeindungen ausgesetzt zu sein) als sie selbst. Es geht also auch darum, die eigene wissende Position des/der Lehrenden zu verlassen, um anderen Stimmen in der Gruppe mehr Gehör zu verschaffen. Achten Sie aber auch darauf, ein Gruppenmitglied nicht nur auf z. B. seine/ihre Migrationserfahrung zu reduzieren. Ein Mensch ist mehr als seine Flucht, auch wenn er/sie vielleicht gut darüber sprechen kann.

– Um eine solche Haltung langfristig in der Filmbildung zu etablieren, ist es zudem von Nöten, Strukturen zu verändern. Für Bildungszwecke müsste die Zugänglichkeit von Filmen, die Teil eines in diesem Sinne umfassenden Kinobegriffs sind, ermöglicht werden. Filmbildung müsste auch von Menschen aus verschiedensten diskursiven Kontexten und migrantischen Zusammenhängen praktiziert/unterrichtet/gestaltet werden. Filmmuseen, Verleihe, Festivals müssten als Institutionen ihre „gläserne Decke“ durchbrechen und mit ihrer Arbeit andere Menschen als bisher erreichen, als Orte für ein Publikum und als Arbeitgeber. Es geht hier um weit mehr als bloß den Austausch von ein paar Filmen, mit denen wir arbeiten oder einer klein wenig anderen Art des Redens über Kunst. Was Mark Terkessidis für die Verschiebungen innerhalb der Institutionen festhält, gilt übertragen auf alle hier aufgeführten (und noch weitaus mehr) Aspekte einer ästhetischen Filmbildung in einer Migrationsgesellschaft. „Das Ziel ist ein konzeptionelles Gerüst im Hinblick auf die Veränderungen von Institutionen und Politiken. Es geht dabei nicht darum, Minderheiten in bestehende Institutionen einzugliedern oder einfach neue Politiken zu den bestehenden hinzuzuaddieren. Es gilt vielmehr, den Kern der Institutionen zu befragen, sie daraufhin abzuklopfen, ob die Räume, die Leitideen, die Regeln, die Routinen, die Führungsstile, die Ressourcenverteilungen sowie die Kommunikation nach außen im Hinblick auf die Vielheit gerecht und effektiv sind.“8

Literaturverzeichnis

1 Erol Yildiz spricht daher z. B. von einer postmigrantischen Gesellschaft, in der die Strukturen von Zugehörigkeit bereits so fluide geworden sind, dass sie eine andere Art von kognitiven Mustern hervorbringen und so auch nationale Denkstrukturen kreativ herausfordern. Erol Yildiz: „Öffnung der Orte zur Welt und postmigrantische Lebensentwürfe, in: SWS-Rundschau 2010 (3), S. 318-339 (http://www.sws-rundschau.at/archiv/SWS_2010_3_Yildiz.pdf)
2 Paul Mecheril u.a. (Hg.): Migrationspädagogik, Weinheim und Basel, 2010, S. 12
3 Ebd., S. 13
4 Paul Mecheril: Kulturell-Ästhetische Bildung. Migrationspädagogische Anmerkungen, in: Art Education Research, Ausgabe 6. Kunstunterricht und -vermittlung in der Migrationsgesellschaft, S. 113-119.
5 Nanna Heidenreich betont, welche Rolle künstlerische Arbeiten und vor allem auch: die künstlerische Arbeit als Praxis allgemeiner einnehmen, um reflexive Einsichten zu erlangen, wie Bilder von Migration zu Subjektkonstruktionen beitragen; „Politische Subjektivierungsprozesse finden heute meist mit und im (Video-)Bild statt – um sich zu ereignen, brauchen sie die Kunst und das Kino nicht. Aber in den ästhetischen Reflexionsprozessen künstlerischen Arbeitens könnten diese weitergedacht, archiviert und in andere Räume projiziert werden“, in: Nanna Heidenreich: V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration, Bielefeld 2015, S. 322
6 Homi Bhabha benutzt für eine solche Form des Denkens, die Differenz herstellt und nicht auflöst, den Begriff der Verhandlung: Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2011, S. 39
7 Situiertes Wissen wird im Diskurs der Migrationspädagogik auch als migrantisches Wissen benannt und übersetzt die von Donna Haraway artikulierten Parameter eines solchen Wissens für den Diskurs der Migrationsgesellschaft. Siehe hierzu: Donna Haraway: „Situated knowledges: The science question in feminism and the privilege of partial perspective“. Feminist Studies, 14 (3), 1988, S. 575–99
8 Mark Terkessidis: Interkultur. Berlin 2015 (6. Auflage), S. 132