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Filmvermittlung als Herstellen von Begegnungsräumen

Tag der Akademie 2021, 4. November, Cinema Paradiso, St. Pölten

Stefan Huber

 

Ich möchte bei meinen Überlegungen dazu, was Vermittlung ist, sein kann oder sein soll, mit dem Wort selber anfangen: Ver-mittlung, also zwischen zwei Entitäten (nehmen wir mal diesen sehr abstrakten Begriff) als Mittleres agieren, als Verbindungsstück, als Bote*Botin. Die Rolle der Vermittlung besteht also darin, Begegnung zu ermöglichen. Diese Überlegung mag zwar weder neu noch originell sein, ich halte sie aber für einen überaus fruchtbaren Ausgangspunkt, um sich genauer Gedanken über Vermittlung zu machen. Die Frage, die ich hier interessant finde, und um die es auch in meinen folgenden Ausführungen gehen wird, ist: Was ist hier mit Begegnung gemeint? Wer begegnet wem? Welche Faktoren tragen dazu bei, den Raum für eine solche Begegnung zu schaffen? Und welche sind ihm abträglich?

Begegnung meint hier: Begegnung mit etwas Fremden, einem „Anderen“. Erst in der Begegnung mit dem Anderen stellt das Ich Bezug zur Welt her, kann seine Vorstellungen, Meinungen, Überzeugungen bilden, überprüfen, adaptieren, erweitern, in Frage stellen. Und erst in dieser Begegnung kann das Ich auch über sich selbst neu nachdenken und so Veränderung erfahren. Begegnungen machen uns also reicher, reflektierter und im besten Falle sozialer, verständnisvoller, weltoffener, toleranter. Das heißt: Echte Begegnungen können diesen Effekt haben. Wir „begegnen“ in unserem Alltag ja ständig anderen Menschen, in der U-Bahn, in der Arbeit, in Restaurants. Doch all diese „Begegnungen“ machen uns nicht unbedingt weltoffener. Begegnung wie ich sie verstehe, findet nur dann statt, wenn die Bereitschaft besteht, sich auf das Fremde des*der Anderen einzulassen. Allzu oft läuft es hingegen so ab, dass wir im Anderen* in der Anderen nur Bestätigung für Überzeugungen suchen, die wir ohnehin bereits haben. Hier entsteht kein echter Austausch, hier wird der*die Andere benutzt, um sich selber zu bestätigen. Echte Begegnung hat mit einer In-Frage-Stellung des Selbst zu tun. Das kann unangenehm sein, das kann schwierig sein, das kann verunsichern. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass es uns weiter bringt.

Das also die grundlegenden Überlegungen zum Begriff „Begegnung“, die ich den weiteren Punkten zugrunde legen will. Denn nach dieser Arbeitshypothese zum Begriff der Begegnung, ist nun für mich die interessante Frage: Wer begegnet überhaupt wem? Und ich glaube, hier wird es erst richtig spannend, denn in der Filmvermittlung gibt es eine ganze Reihe von Begegnungen, die wir als Vermittler*innen mithelfen können, zu ermöglichen:

Erstens: Filmvermittlung als Begegnung mit dem Film

Diese ist klarerweise für die Filmvermittlung zentral. Der Ausgangspunkt der Filmvermittlung ist die Erfahrung des Filmschauens. Je nach Vermittlungsformat Langfilme, Kurzfilme, Filmausschnitte oder verschiedene Kombinationen aus dem Genannten. Alain Bergala – das wird Ihnen vermutlich bekannt sein – fordert für den Einsatz von Film im Schulunterricht, Film als Kunst zu behandeln. Und zur Kunst als Kunst, so Bergala mit Jack Lang, gehört ganz wesentlich der Aspekt der Alterität, also: das Andere an der Kunst. Wenn Sie diese Überlegungen kennen – Bergalas Buch „L'hypothèse cinéma“ ist ja ein zentrales Bezugswerk für die Filmvermittlung –, werden Sie vielleicht schon bei den einleitenden Überlegungen daran gedacht haben. Sie leiten sich jedenfalls auch – aber eben „nur“ auch – von Bergala ab. Film als Kunst zu begegnen heißt also, diesem Fremden im Kunstwerk zu begegnen. Diesem „Еtwas“, das wir nicht verstehen, das sich uns nicht – oder nicht sofort – erschließt, das sich nicht erklären lässt. Das zunächst mal bloß wahrgenommen wird – nicht mehr und nicht weniger. Und diese Wahrnehmung ist der Ausgangspunkt des Prozesses der Begegnung. In dieser Begegnung kommen Gefühle auf, Meinungen, Hypothesen, die sich bestätigen oder verworfen werden. Es entsteht ein Gespräch (auch wenn dieses Wort bereits zu sehr nach verbaler Äußerung klingt) und zwar zunächst mal mit sich selbst und mit dem Film. Davon ausgehend könnte man zunächst mal der These Peter Kubelkas zustimmen, Film kann man nur durch Film verstehen. Oder – etwas umformuliert: „Film vermittelt sich selbst.“ Das halte ich auch für richtig, das setzt aber auch voraus, dass die jeweilige Person diese Eigenschaft von Film zu handhaben weiß: Dass sie bereits eine hohe Bereitschaft mitbringt, sich auf diesen schwierigen und oft orientierungslosen Prozess einzulassen und/oder bereits viel Erfahrung damit hat, was Film alles kann oder sein kann. Ist beides nicht gegeben, kann es passieren, dass es nicht zu einer Auseinandersetzung – das heißt: einer Begegnung – kommt, sondern, dass schnell abgebogen wird zu Sätzen wie: „Das versteh ich nicht.“ oder „Was ist das für ein Blödsinn?“ Beides führt zum Abbruch der Auseinandersetzung. An dieser Stelle hilft es also, wenn man diesen Prozess nicht mit sich selber oder mit dem Film alleine ausmachen muss, sondern darin Unterstützung bekommt. Das ist die Aufgabe der Filmvermittlung. Es folgt also

Zweitens: Filmvermittlung als Begegnung mit anderen Menschen

Von der Abfolge der aufgebauten Argumentation ist diese Begegnung zunächst Mal eine Begegnung mit dem*der Filmvermittler*in. Der*Die Filmvermittler*in kann an einem solchen Punkt, an dem eine Person in der Auseinandersetzung mit dem Film nicht mehr weiter kommt, eine Hilfestellung bieten. Eben: ver-mitteln. In der Vermittlung können wir Input geben, um steckengebliebene Überlegungen wieder in Bewegung zu bringen. Wir können Fragen stellen, die neues Nachdenken ermöglichen. Wir können auf die Aussage „Das versteh ich nicht“ mit der Frage reagieren: „Was haben Sie denn wahrgenommen? Was haben Sie gehört, gesehen, was ist in dem Film passiert?“ So kann wieder zur Wahrnehmung zurückgekehrt und der Druck des Verstehen-Müssens rausgenommen werden. Umgekehrt kann bei der Aussage „Was is das für ein Blödsinn?“ umgegangen werden. Hier kann als Reaktion etwas gebracht werden, das ich „Sinnunterstellung“ nenne. Ungefähr so: „Gehen Sie mal davon aus, dass der Film doch Sinn hat: Was könnte der sein?“. Auch hier geht es darum, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass etwas Fremdes, etwas „Be-fremdliches“ nicht sofort in eine fixfertige Kategorie eingeordnet wird, sondern dass eine Auseinandersetzung stattfindet bzw. weitergeht. Oder – und das halte ich für ebenso wichtig – es kann so reagiert werden: „Vielleicht ergibt der Film gar keinen Sinn. Vielleicht gibt es hier nichts zu verstehen oder nicht widerspruchsfrei zu verstehen.“ So kann das Gespräch wieder auf die Frage nach Film als Kunst geführt werden: Als etwas, das nicht zwangsläufig der Verstehbarkeit unterworfen werden kann.

Ein kleiner Einschub an dieser Stelle: Ich glaube, nicht nur in der Betrachtung von Film als Kunst steckt diese Beschäftigung mit dem Film als Alterität. Auch in der Beschäftigung mit fremden Formen steckt sie. Etwa, wenn wir Filme zeigen, die nicht dem entsprechen, was die meisten im Publikum „gewohnt“ sind. Was das ist, hängt vom jeweiligen Publikum ab. Ebenso kann ein Film, der vor mehreren Jahrzehnten entstanden ist oder in anderen kulturellen Zusammenhängen oder der von Menschen mit einem bestimmten situierten Wissen gemacht wurde, Aspekte von Alterität haben, die sich nicht alle auf die Frage der Kunst zurückführen lassen, sondern vielleicht auch auf Fragen der Positionierung oder auf jene von historischer oder kultureller Distanz. Oder wenn man sich ganz andere Formen von Film anschaut, ich denke da an die Sammlung Ephemerer Filme des Österreichischen Filmmuseums, in der Home Movies, Werbungen, Testaufnahmen, weggeworfenes Material etc. versammelt sind. Alles Formen, die große Rätsel aufgeben, uns aber auch zeigen können, dass Film viel mehr ist als der übliche Zwei-Stunden-Spielfilm.

Besonders spannend finde ich es übrigens, wenn auf bekannte Formen mit neuen Fragestellungen geblickt wird. Zum Beispiel – gerade in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sehr interessant – wenn man sich anschaut, wie Sympathien oder Antipathien filmisch konstruiert werden: Wie erzählt uns ein bestimmter Film, dass eine Figur „der*die Gute“ und die andere „der*die Böse“ ist? Was tragen Beleuchtung, Musik, Einstellungsgröße, Schnitt etc. dazu bei? Diese Fragen aufzubringen, bringt bei jungen Filmschauer*innen, die ja alle bereits tausende Filme gesehen haben, oft die Erkenntnis: Es ist vielleicht nicht die Figur an sich, die ich ablehne, sondern sie wird mir auf eine Art und Weise präsentiert, dass ich fast nicht anders kann, als sie abzulehnen. Ich habe nach solchen Filmgesprächen oft die Rückmeldung bekommen, dass viele Kinder oder Jugendliche das erste Mal über solche Fragen nachgedacht haben – für mich ein Erfolg im Sinne einer Begegnung mit dem Film. Aber das – wie gesagt – nur als Einschub.

Weiter zum eigentlichen Thema: Filmvermittlung als Begegnung mit einem anderen Menschen. Damit ist nicht nur die Begegnung mit einem*einer Filmvermittler*in gemeint, sondern auch die Begegnung mit weiteren Menschen. Nämlich mit jenen, die mit mir im Kino sitzen – oder wo auch immer Filmvermittlung stattfindet – und mit mir gemeinsam die Erfahrung des gemeinsamen Filmschauens geteilt haben (Hier könnte es schon wieder einen Einschub geben, nämlich zur Bedeutung des Settings, des Dispositivs, in dem wir Film schauen. Aber das würde den Rahmen sprengen.). Jetzt erweitert sich der Satz von vorher: Der Ausgangspunkt von Filmvermittlung ist die Erfahrung des gemeinsamen Filmschauens. Das kann heißen: Gemeinsam mit Menschen, die ich bereits kenne – etwa bei Veranstaltungen mit einer Schulklasse – oder mit Menschen, die ich noch nicht kenne – etwa im Rahmen einer allgemein zugänglichen Vermittlungsveranstaltung. In beiden Fällen kann die Begegnung mit dem*der Anderen stattfinden: Mit Menschen, die mir bisher fremd sind, baue ich über das Filmgespräch erstmals Kontakt auf; Menschen, die ich bereits kenne, kann ich unter Umständen über das Filmgespräch neu kennenlernen. Für die Vermittlung heißt dieses gemeinsame Filmschauen und das gemeinsame Gespräch danach zweierlei: Erstens: Die gemeinsam geteilte Erfahrung – das Sehen des Films – ist der Ausgangspunkt des Gesprächs. Alle haben dasselbe gesehen, sogar gemeinsam, und somit haben alle denselben Ausgangspunkt, die Basis für ein gleichberechtigtes Gespräch („gleichberechtigt“ wird allerdings nie erreicht werden, da der*die Vermittler*in in diesem Setting doch immer eine spezielle Machtposition hat, aber auch darauf einzugehen, fehlt hier die Zeit.). Filmvermittlung, die darin besteht, mit Fachbegriffen, Referenzen zu anderen Filmen oder zu Theorien, mit biografischen Details zu involvierten Künstler*innen etc. um sich zu werfen, zerstört diese gemeinsame Basis. Wer immer das macht (meistens der*die Filmvermittler*in), signalisiert: Um über den Film reden zu können, braucht ihr mein Fachwissen. Kaum etwas kann in der Vermittlung zerstörerischer sein. Um dem entgegenzuwirken, halte ich wieder die Frage nach der Wahrnehmung für zentral: „Was haben Sie gesehen?“ Auf diese Frage kann jede*jeder antworten, vorausgesetzt er*sie möchte das. Und wenn es eine erste Wortmeldung gibt, eine erste Wahrnehmung mitgeteilt wird, hat man bereits eine Richtung, in die man das Gespräch entwickeln kann. Und wenn von mehreren Personen Wahrnehmungen mitgeteilt werden, können diese zu einander in Bezug gesetzt und diskutiert werden. Im Sinne des Zieles, Begegnung zu ermöglichen. Nicht mit Blick auf die Frage: „Welche Sicht ist die Richtige?“ Sondern mittels der Frage: „Wie lassen sich die verschiedenen Sichtweisen auf den Film beziehen?“ Wahrnehmung ist ein selektiver Prozess, Interpretation hängt nicht nur vom Gesehenen, sondern auch von der jeweiligen Person ab, die sieht. Je nachdem, auf welche Elemente eines Films eine Assoziation aufbaut und von wem sie stammt, werden bei ein und demselben Film ganz unterschiedliche Ideen aufkommen. Manchmal auch einander widersprechende. Und das muss nicht aufgelöst werden, das kann so stehen bleiben. Wichtig ist lediglich: Wie kann meine Idee, meine Interpretation aus dem Film heraus argumentiert werden? An welchem Schnitt, welcher Kamerafahrt, welcher Bild-Ton Kombination und so weiter? Mir ist wichtig zu betonen: Der vorgestellte Ansatz soll nicht heißen, dass über jeden Film alles behauptet werden kann. Der Ansatz soll heißen: Was eine Person in Bezugnahme auf den Film und seiner Form für andere nachvollziehbar argumentieren kann, besitzt Gültigkeit. So – das ist zumindest mein Ziel und meine Hoffnung – kann vermittelt werden, dass die jeweils eigene Sicht Gültigkeit hat und berechtigt ist, auch wenn es andere Sichtweisen gibt, die ihr widersprechen. Und dass auch die jeweils andere Sicht Gültigkeit hat. Auch das heißt Begegnung. Hier steckt ein gesellschaftspolitischer Wert von Filmvermittlung: Ich kann den*die andere*anderen sein lassen, dennoch finden wir eine gemeinsame Gesprächsbasis und ein darauf aufbauendes Gespräch hat das Potenzial, uns beide zu verändern. Diesen Wert tatsächlich zu realisieren, braucht allerdings noch viel Arbeit, ist doch auch Vermittlung nicht davor gefeit, Ausschlussmechanismen zu reproduzieren, und das meine ich durchaus selbstkritisch. Dieses gesellschaftskritische Potenzial steckt im Gespräch zweier Menschen über einen Film genauso, wie es übrigens in der Begegnung eines einzelnen Menschen mit dem Film steckt (ich greife hier noch einmal auf den ersten Punkt zurück). Auch der Film kann eine Position einnehmen, die ich nicht verstehe oder nicht teile. Aber in meiner Auseinandersetzung mit dieser Positionierung des Films kann sich meine eigene Perspektive, mein Blick auf die Welt verändern, und das kann als sehr bereichernd empfunden werden.

Und damit ist auch schon der letzte Punkt angesprochen:

Filmvermittlung als Begegnung mit sich selbst

Schon am Anfang dieser Überlegungen wurde postuliert, dass das Ich in der Begegnung mit dem Anderen, mit dem Fremden Welt erfährt und in dieser Auseinandersetzung sich selbst erfährt und verändert. All die genannten Aspekte sind nur dann Begegnungen, wenn sie in uns etwas verändern. Filmvermittlung ist allerdings keine Selbsterfahrung – als Filmvermittler*innen versuchen wir nicht herauszufinden, was in einer Person es ist, das eine bestimmte Idee zu einem Film ausgelöst hat. Wir fragen, was an der Gestaltung des jeweiligen Films daran Anteil hat, dass diese Idee ausgelöst wurde. Und dennoch ist Filmvermittlung Selbsterfahrung. Nämlich mit dem Ziel und der Hoffnung – und das ist es, was ich mit meiner Arbeit zu erreichen suche –, dass die Begegnung mit dem Film, mit der sozialen Situation, in der wir ihn sehen, mit anderen Menschen Bereicherung ist und etwas in Bewegung bringt. Und das gilt nicht nur – und damit will ich einladen, alles bisher Gesagte noch einmal neu durchzudenken – für die Menschen, die Vermittlungsveranstaltungen besuchen, sondern auch für die Personen und Institutionen, die sie anbieten.